Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht zur Eröffnung der Tagung €"Wie erinnern wir den 9. November?" .

Steinmeier zum 9. November "Tag der Erinnerung an den Zivilisationsbruch"

Stand: 09.11.2022 13:53 Uhr

Der 9. November wird aus der Sicht des Bundespräsidenten für immer an den "Zivilisationsbruch des Holocaust" erinnern. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Schuster, hatte zuvor vor einem Verblassen der Erinnerung gewarnt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei einer Gedenkveranstaltung zum 9. November im Schloss Bellevue erklärt, der heutige Tag werde für immer an den "Zivilisationsbruch des Holocausts" erinnern. "Immer wird uns der 9. November zum Kampf gegen den Antisemitismus auffordern", erklärte er.

Der 9. November 1938 sei nicht der Beginn der Judenverfolgung gewesen. "Aber was an diesem Tag der offenen Gewalt geschah, war der für alle sichtbare Vorschein der dann folgenden, genau geplanten und mit brutaler Konsequenz durchgeführten Entrechtung, Verschleppung und schließlich Vernichtung der Juden Deutschlands und Europas."

Ein Tag gleich mehrerer historischer Ereignisse

Am 9. November 1918 war vom Berliner Reichstag aus die Republik ausgerufen, und so das Ende der Monarchie besiegelt worden. Am 9. November 1938 fanden die Pogrome der Nazis gegen die jüdische Bevölkerung statt. In ganz Deutschland brannten Synagogen, wurden Geschäfte geplündert und zerstört, Jüdinnen und Juden wurden misshandelt, willkürlich verhaftet und getötet. Der 9. November 1989 schließlich steht für den Fall der Berliner Mauer und das Ende der Teilung Deutschlands.

Steinmeier: Ambivalenz aushalten

"An diesem Tag wird uns ja, wenn wir uns alle seine Aspekte wahrhaftig vor Augen führen, immer wieder deutlich, zu welch großartigen Möglichkeiten und demokratischen Aufbrüchen einerseits und zu welchen Abgründen, zu welchen entsetzlichen Verbrechen andererseits wir hier in Deutschland fähig waren", so Steinmeier. Er warb zugleich für "andere Formen und Formate, mit denen wir Gedenktage und Erinnerungstage lebendig und für die Gegenwart bedeutsam machen können".

Es sei möglich, "der hellsten und der dunkelsten Stunden deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts, so sperrig sie sich gegeneinander stellen, gemeinsam zu gedenken und sie in ihrer Bedeutung für die Gegenwart gemeinsam ins Gedächtnis zu rufen", erklärte das Staatsoberhaupt. "Diese Ambivalenz auszuhalten, das gehört dazu, wenn man Deutscher ist."

Warnung vor Verblassen der Erinnerung

Zuvor hatte der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, davor gewarnt, dass kalendarische Zufälle zu einem Verblassen der Erinnerung an die Shoa beitragen könnten. Zum Jahrestag der Novemberpogrome gegen die jüdische Bevölkerung warnte er davor, einen Schlussstrich unter das Erinnern an die Vernichtung der Juden und die Gräuel der Nazi-Zeit zu ziehen. Laut einer aktuellen Umfrage wollten 49 Prozent der Deutschen diesen gerne ziehen, erinnerte er in einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung" zum 9. November.

Schuster: Ohne gelebte Erinnerungskultur gehe es nicht

Er würde diesen Menschen dringend empfehlen, sich mit einem Shoah-Überlebenden zusammenzusetzen, so Schuster. "Noch leben einige von ihnen. Und ihre Traumata hallen noch in ihren Kindern und Enkeln nach und werden auch bei deren Nachfahren noch nicht verklungen sein." Ohne eine gelebte Erinnerungskultur gebe es auch keine demokratische Kultur der Bundesrepublik Deutschland, fügte Schuster hinzu.

Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Erinnerung zu bewahren und weiterzuentwickeln: "Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Gleichzeitig wächst die Zahl an Menschen, die keine biografischen Bezüge zur NS-Zeit haben. All das macht das verantwortungsbewusste Erinnern nicht leichter."

"Paradigmenwechsel" in Deutschland

Schuster schrieb von einem "Paradigmenwechsel" in Deutschland: "Die Erinnerung an den Holocaust steht zur Disposition." Dazu trügen auch kalendarische Zufälle wie am heutigen 9. November teil. 2022 sei ein Beispiel dafür, dass die Erinnerungskultur von verschiedenen Seiten in Gefahr sei, so Schuster weiter. Dabei kritisierte er unter anderem Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux und den früheren Pink-Floyd-Musiker Roger Waters, die immer wieder zum Israel-Boykott aufriefen. Antisemitische Darstellungen wie jene auf der diesjährigen documenta in Kassel hätte er sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht gewagt vorzustellen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 09. November 2022 um 12:00 Uhr.